Ratgeber Bratsche



Teil 1:  Korpusgrösse und Saitenlänge

In drei Artikeln zu den Themen «Bratschengrösse» «Wölbung, Holz und Ausarbeitung» und «Klangeinstellung» können Sie Ihr Hintergrundwissen rund um die Bratsche erweitern. Beginnen wir mit dem für Bratschisten wichtigsten Auswahlkriterium:

Die richtige Bratschengrösse

«Du brauchst unbedingt ein kleineres Instrument!» Mit diesen Worten animierte mich meine Lehrerin vor über 30 Jahren, mir endlich ein eigenes Instrument zu kaufen. Die wichtigste Bedingung: Die Größe sollte stimmen: «39cm wären ideal für dich, dann musst du dir bei den Doppelgriffen die Finger nicht so verrenken!» Beim Ausprobieren merkte ich schnell: Die Korpusgrösse allein kann es nicht sein, denn manche Bratschen fühlten sich gut an, obwohl sie zu gross waren. Damals bin ich diesem Phänomen nicht weiter nachgegangen: Zu schön die Vorstellung, dass es um den Bratschenklang eben doch ein Geheimnis gibt, das manche Bratschen auf wundersame Weise leicht spielbar macht. Auch heute ist diese Ansicht noch erstaunlich weit verbreitet. Und falls Sie zu den Menschen gehören, die das Geheimnisvolle musikalisch inspiriert, sollten Sie jetzt nicht weiter lesen. Andernfalls nehmen Sie ein Massband zur Hand, um das Geheimnis zu lüften.
 


Die schwingende Saitenlänge
Ob eine Bratsche sich richtig anfühlt liegt, anders als meist angenommen, nicht an der Korpuslänge, sondern an der schwingenden Saitenlänge: Das ist die Distanz vom Steg bis zum Obersattel. Während fast jeder Bratschist die Korpuslänge seiner Bratsche kennt, ist die schwingende Saitenlänge, auch Mensur genannt, den meisten unbekannt. Noch weniger bekannt: diese Grösse variiert unabhängig von der Korpusgrösse! Es gibt also grosse Bratschen mit kurzer Saitenlänge und umgekehrt. Dazu etwas Geigenbautheorie zur Berechnung der Mensur:

 

  • Zunächst wird die Position der f-Löcher festgelegt, deren Kerben die Position des Steges bestimmen. Im Gegensatz zu Geige und Cello gibt es bei der Bratsche dafür kein festgelegtes Mass!
  • Die Distanz zwischen f-Lochkerbe (= Stegposition) und Deckenrand ergibt die sogenannte Deckenmensur.
  • Nach der Deckenmensur berechnet sich die Halslänge bzw. Halsmensur: Sie beträgt zwei Drittel der Deckenmensur.
  • Deckenmensur und Halsmensur plus je nach Halsneigung einige Millimeter ergeben die Mensur (schwingende Saitenlänge).
Entscheidend für die Mensur ist also die Stellung der f-Löcher. Da der Geigenbauer hier nicht an ein festes Mass gebunden ist, kann die Positionierung frei nach klanglichen, optischen und spieltechnischen Gesichtspunkten gewählt werden. Dementsprechend viele Varianten finden sich auf dem Bratschenmarkt: Mir sind Saitenlängen zwischen 34cm und 40cm begegnet. Zum Vergleich: der Unterschied der Mensur von der ½  zur 4/4 Geige beträgt 4cm! Wie bereits erwähnt hat die Saitenlänge nicht viel mit der Korpusgrösse zu tun, wie ich am Beispiel meiner beiden Lieblingsbratschen verdeutlichen will.

Ein ganz besonderes Modell: Die Bratsche von G.P. Maggini
Auf der Zeichnung ist der Umriss einer Bratsche von Andrea Guarneri (rote Linie) und G.P. Maggini (schwarze Linie) zu sehen. Bei beiden Bratschen misst der Korpus 41,6cm, und auch die Breite ist fast identisch. Einen Unter
schied gibt es lediglich bei den Mittelbügeln: Sie sind bei Maggini deutlich kürzer, haben fast die Grösse einer Geige.
 
  • Folglich muss der Steg bei der Maggini weiter oben stehen, die Deckenmensur ist mit 20,5cm sehr kurz. Die Mensur beträgt somit nur 34,5cm - ein Maß, dass man eher bei einer ¾ Bratsche erwarten würde.
  • Bei der Andrea Guarneri beträgt die Deckenmensur 22,2cm. Das führt zu einer Mensur von 37,5 cm - ein Maß im oberen Mittelfeld, dass man bei dieser Korpusgrösse auch erwartet.
Dies ist ein extremes Beispiel, und in der Praxis hat es sich bei uns bewährt, die Mensur um ca. einen cm zu verlängern und das Maggini-Modell so den heutigen Klangansprüchen etwas anzupassen. Womit wir beim nächsten Thema sind:


Die Auswirkung der Mensur auf Bratschenklang und Spielbarkeit

Vorneweg wieder etwas Theorie: die Tonhöhe einer Saite können wir auf zwei Arten verändern:
 
  • Wir verändern die Länge der Saite. Setzen wir einen Finger auf die Saite, wird die schwingende Saitenlänge kürzer, der Ton wird höher.
  • Wir verändern die Saitenspannung: auch dieser Vorgang ist jedem Spieler durch das Stimmen vertraut, mehr Spannung erhöht den Ton.
Mit Blick auf unsere Bratschenmensur ergibt sich folgendes Bild: Bei kurzer Mensur muss die Saite beim Stimmen weniger stark unter Spannung gesetzt werden. Weniger Spannung sorgt für eine leichtere Ansprache, der Ton klingt dunkler und weicher - Eigenschaften, die vor allem Hobby-Bratschisten zu schätzen wissen. Profi-Bratscher brauchen dagegen zur klanglichen Gestaltung mehr Saitenwiderstand und bevorzugen deshalb meist Instrumente mit höherer Saitenspannung. Klanglich sorgt die höhere Saitenspannung für zusätzliche Brillanz und Klangkraft. Die Erfahrungswerte aus meiner über zwanzigjährigen Berufspraxis:
 
  • Ab ca. 35,5cm Saitenlänge beginnt die Bratsche nach Bratsche zu klingen.
  • Für den Profibereich sind im Allgemeinen etwa 36cm, besser 36,5cm erforderlich.
  • Bis zu einer Länge von 37,5cm nimmt die Tonfülle zu.
Keine Frage, es gibt auch Bratschen mit noch längerer Mensur die ganz hervorragend klingen, doch ab 38cm Saitenlänge treten zunehmend Probleme auf. Zur Tonfülle gesellt sich gern eine gewisse Schärfe, Saiten und mitunter auch die Bratsche selbst leiden unter der erhöhten Saitenspannung. Auch aus noch anderen Gründen will die Anschaffung einer Bratsche mit sehr langer Mensur gut überlegt sein: Das Spiel auf einem solchen Instrument erfordert sehr lange Finger, ein Wiederverkauf könnte schwierig werden.

Die Korpusgrösse

Wenn die Korpuslänge auch nicht das wichtigste Kriterium bei der Wahl einer neuen Bratsche sein sollte, ganz aus den Augen verlieren wollen wir sie doch nicht. Auch beim Korpus lohnt es sich, etwas genauer hinzusehen: viele Bratschisten interessieren sich hauptsächlich für die Korpuslänge – für die Tonfülle ist die Korpusbreite jedoch genauso wichtig! Wissenschaftliche Untersuchungen über den Zusammenhang von Korpusgrösse und der Tonschönheit einer Bratsche sind mir nicht bekannt, deshalb kann ich nur meine Erfahrungswerte weitergeben:
 
  • Ober- und Mittelbügel sollten so breit wie möglich sein. Um eine gute Spielbarkeit zu gewährleisten aber natürlich nicht zu breit. 19cm bis 19,5cm für den Oberbügel und 13,5cm bis 14cm für die Mittelbügel haben sich in der Praxis bewährt. Gemessen wird mit einem Rollband über die Wölbung: Bei hoher Wölbung darf es somit auch etwas mehr sein.
  • Was die Korpuslänge angeht, haben wir eine interessante Erfahrung gemacht: Bis zu einer Korpusgrösse von 42cm nimmt die Klangfülle zu, noch grössere Bratschen klingen meist nicht mehr lauter. Oft, nicht immer, haben diese großen Bratschen einen hohlen Beiklang.
  • Insgesamt gilt: ein halber cm in der Breite mehr oder weniger beeinflusst die Klangfülle stärker als ein halber cm Korpuslänge.

Abschliessend noch eine Warnung: Die Masse sollten nie isoliert betrachtet werden, nach dem Motto, «Nur eine Bratsche mit 19cm breiten Oberbügeln ist eine gute Bratsche.» Denn natürlich sind die Maße nur ein Faktor, Holz, Wölbung und Klangeinstellung üben ebenfalls sehr grossen Einfluss aus. Außerdem sind die Geschmäcker beim Bratschenklang ebenso verschieden wie beim Essen, und längst nicht jeder Bratschist wünscht sich viel Tonvolumen. Doch wer sich fragt, warum seine 42cm Bratsche nicht wirklich laut klingt, findet beim Nachmessen vielleicht einen Teil der Antwort.


Welche Erfahrungen haben Sie mit Grösse und Bratschenklang gemacht? Decken sich Ihre Erfahrungen mit unseren Beobachtungen oder konnten Sie ganz andere Erkenntnisse gewinnen?
 

Dieser Blogartikel wurde verfasst von Barbara Gschaider. Sie ist Geigenbauerin und betreibt gemeinsam mit ihrem Mann eine Werkstatt in Bonn. Schwerpunkt ihrer Arbeit ist die Bratsche. Nebenberuflich betätigt sie sich als Autorin zum Thema Geigenbau.


www.atelier-gschaider.de
Photos: Barbara Gschaider

 

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