Begegnung mit Franz Thomastik |
Ich bin gerade dabei, neue Belcanto-Saiten von Thomastik-Infeld auf meine Ritterbratsche aufzuziehen.
Einerseits beglückt, andererseits verärgert.
Beglückt, weil es für meine Bedürfnisse die einzigen Saiten sind, die auf meinem Instrument funktionieren. Verärgert, dass die Saiten nicht zwei Zentimeter länger sind und dann entspannt für die 43er Mensur reichen.
So gebrauche ich eben einen extra langen Feinstimmer für die A-Saite und bei der C-Saite muss ich die Umwicklung am Wirbelende abpfriemeln, dass die Saite ordentlich über den Sattel geht. Nicht immer gelingt diese Bastelei.
Während ich so versunken in der Arbeit bin, steht plötzlich ER im Raum. FRANZ THOMASTIK (1883-1951).
Ich erkenne Ihn, da ich gerade einen Nachlass mit Dokumenten über sein Schaffen aufarbeite. Fester, entschlossener Blick, kantige Augen, grosse Nase, hohe Stirn, wollige Haare, grosse Koteletten und Ohren, die aussehen, als hörten sie in weite Fernen....
Verfasser (V): Aber das kann nicht sein, Sie sind doch schon lange in die unsichtbare Welt gewechselt!
Franz Thomastik (FT): Ach, der Tod ist doch nur der grosse Bruder des Schlafes. Ein Mensch ist doch so lange lebendig, als man sich an ihn erinnert.
V: Das ist wahr. Ihr Name THOMASTIK ist weltweit – naja, nicht in aller Munde – so doch im Munde aller streichenden Musiker ein Begriff. THOMASTIK-Saiten: Spirocore, Präzision, Künstler-Seil, Saiten, Dominant, Vision, Belcanto, Pi...
FT: Ach ja, die Saiten... Es ist schön, dass mit ihnen mein Name überlebt hat. Traurig leider, sind sie doch nur ein kleiner Teil meines Firmenuniversums gewesen.
V: Wie soll ich das verstehen?
FT: Der Klang war es, der mich trieb. Der ferne Klang, der auf Erden noch nicht zu finden war. Die Welt war Ende des 19. Jahrhunderts an einen Punkt gekommen, an dem es nicht mehr weiter ging. In jeder Hinsicht. Politisch, wirtschaftlich, kulturell. Überall Dekadenz...
V: Erzählen Sie! Woran machen Sie das fest. Wir sind nun schon an die 150 Jahre weiter und es geht uns doch ganz gut...
FT: Vorsicht, mein Freund! Aus der übergeordneten Schau darf ich Ihnen sagen, dass Sie sich in einem Wandel befinden, ähnlich dem, den wir in den 1920er Jahren erlebten. Also Augen auf!
V: Wie meinen sie das?
FT: Die 1920er Jahre. Alles schien möglich. Keiner wollte mehr Grenzen nach dem ersten grossen Krieg. Die mechanische Musik begann ihren Siegeszug. Grammophon, Radio, Tonfilm. Alles jederzeit verfügbar. Stellen Sie sich vor: In Wien! Wenig besuchte Konzertsäle. Defizitäre Veranstaltungen. Arbeitslose Musiker in den Strassen, in den Gassen. SIE stecken heute im digitalen Wandel. Der ist noch zehn Mal schlimmer. Alles jederzeit verfügbar und doch tot und seelenlos.
V: Ja, aber es ist doch ein Aufwärtstrend im heutigen Konzertleben zu verspüren. Man sagt, pro Jahr gehen mehr Leute ins Theater und Konzert als Menschen zur Bundesliga.
FT: Und was hören sie da? Alte Musik. Klassisches, romantisches Repertoire. Beethoven, Brahms Tschaikowsky.
V: Ist das schlimm?
FT: Schlimm nicht so sehr, aber altbacken. Können Sie sich vorstellen, was wir für Musik hören dürften, hätte es diese unsäglichen Kriege nicht gegeben?! Vor allem der zweite Krieg. Die Ausrottung alles Jüdischen, der Menschen und Ihres Gedankengutes, das bei allem auch noch im besten Sinne «Deutsch» war. Man hat den Ast abgesägt, auf dem man selbst sass!
V: Bitte erzählen Sie weiter, solange ich Sie hier erkenne. Sie reden sich ja gerade in Fahrt.
FT: Ja, nicht ohne Grund. Die Kriege haben nicht nur mir alles genommen, sondern auch der Nachwelt meinen Impuls fast völlig vorenthalten. (Sinnend) Wahrscheinlich würden wir überwiegend sogenannte «zeitgenössische» Musik hören auf «zeitgenössischen» Instrumenten, wäre uns der Weltenbrand erspart geblieben...
V: Zeitgenössische Instrumente? Meinen Sie elektronische Instrumente?
FT: Ach! Gehen Sie weg mit diesen Klangfratzen!
Von Anfang lieber Freund:
Ich wurde 1883 geboren in Holleschau/Mähren. Heute Holesov in Tschechien. Wo das ist? Das weiß bei Ihnen heute keiner mehr! 1941 wussten die Nazis wohl, dass bei uns die grösste jüdische Gemeinde Mährens lebte und zündeten auch hier die wunderbare Synagoge an. Wagner stirbt in diesem Jahr 1883. Hinterlässt ein riesiges Klanggebäude im wörtlichen und übertragenen Sinn. Smetana ein Jahr später. Tschaikowsky 1893 etc. Richard Strauss beginnt seine Laufbahn. Musik war nur erlebbar, indem man zu Konzerten ging oder indem man sie selbst spielte. Meine Heimat ist nicht so ländlich, wie bei Euch viele denken. Ein wunderschönes Barockschloss und Kirchen zeugen von großer Kultur, heute noch.
FT: Ich war als Kind begeistert von den Tanzgeigern, die am Wochenende aufspielten. Meinen Vater, er war Lebensmittelhändler und Seifensieder, bat ich um eine Violine. Da war ich 5. «Dann bau dir selber eine», war die damals wenig - oder doch sehr - motivierende Antwort.
«Bau dir selber eine», das wurde mir dann zum Lebensmotto.
V: Dann haben Sie wohl Geigenbau erlernt?
FT: Zunächst nicht. Das war zu simpel. Es ging um etwas viel Grösseres. Philosophie und Physik habe ich zunächst in Wien studiert. 1908 den Doktor gemacht. Die ganze Welt war im Umbruch. Politisch: Weg vom Kaiser, hin zur Demokratie. Wirtschaftlich: Industrielle Revolution. Kulturell: Freiheit, z.B: Weg von der Tonalität...
Die italienischen Geigen entstammen ja einer Zeit, als die Welt noch eine Scheibe war: Eine Decke aus Fichtenholz, die schwingt, angeregt durch eine kleine Holzbrücke. Gleichzeitig verhindert ein Stab im Innern (Stimmstock) das freie Schwingen. Das System war ausgereizt. Neues musste gefunden, erfunden werden. Der Ton, der Klang musste das Universum abbilden können. Bis zu den Sternen greifen. Ihre Kräfte bündeln. Die Blasinstrumente sind diesen Weg gegangen im 19. Jhdt. Die Streicher sind auf dem Stand von 1650 stehen geblieben.
V: Wie sind Sie weiter vorgegangen?
FT: 1908 kam ich in Kontakt mit der anthroposophischen Bewegung. Ein gewisser Rudolf Steiner hielt Vorträge in Wien. Ein charismatischer Mensch, dessen geisteswissenschaftliche Erkenntnisse bis in die jüngste Zeit das Mass aller Dinge sind. Wir begegneten uns, verstanden uns und tauschten uns zeitlebens aus über musikalische Fragen und über die Dreigliederung des sozialen Systems.
V: Und der Ton, der Klang, die Geigen??
FT: Es musste alles auf solider Handwerkskunst aufbauen. Nur im Kopf philosophieren war nicht glaubhaft. So ging ich zunächst nach Markneukirchen, dann nach Mittenwald, um in den Zentren des Geigenbaus zu lernen.
Noch vor dem ersten Weltkrieg hatte ich meine Geigenbauwerkstatt in Wien. Ein Traum war in Erfüllung gegangen. Ich konnte Wirken.
V: Das heisst?
FT: Ahorn, Fichte. Ahorn, Fichte über Jahrhunderte das Gleiche.
Es gab doch noch andere Hölzer: Eiche, Buche, Esche, Birke, Ulme, Rüster etc. Jeder Baum holt andere Planetenkräfte auf die Erde.
Jeder Stimme im Streichquartett ihr eigenes Holz, ihre eigene Individualität geben. Ein Instrument komplett aus einem Holz:
Geige Ahorn
2. Geige Kirsche
Bratsche Birke
Cello Esche
Durchbohren der Decke. Ein Stegfuss steht auf der Decke, einer auf dem Boden. Boden und Decke schwingen.
Vom Resonanzkörper zum Organismus.
Erweiterung der Streicherfamilie auf sieben Instrumente. Zusätzlich eine Diskantgeige, ein Tenor-Cello, das die Lücke zwischen Bratsche und Cello schliesst und ein Kontrabass aus Weissbuche. Diese Familie vertritt die sieben Planetenkräfte ähnlich der Säulen des ersten Goetheanums.
V: Halt, halt, ich komme mit Denken kaum mit.
FT: Es war eine grosse Geschichte. Was heisst WAR, es IST eine große Geschichte. Wieso stöhnen Sie, haben Sie doch selbst eine Eschenbratsche!
V: Woher wissen Sie, dass..... ach!
Jaa! Ich hörte das Streichseptett-Heiligenberg (feste Formation) vor 25 Jahren in Dornach bei einem Konzert im Goetheanum spielen. Ein Erlebnis, das ich nie vergessen werde. Arthur Bay hatte Ihren Impuls vollendet, alle sieben Instrumente gebaut. Danach wollte ich unbedingt solch eine Eschenbratsche haben.
FT: (nachdenklich traurig) Die verdammten Kriege!
Im ersten Weltkrieg musste ich an die Front. Man hat mir das Bein zerschossen. Behinderung und Schmerzen war fortan das Los. Nach dem Krieg haben wir weitergemacht. Wir «Thomastik und Mitarbeiter», das waren außer mir noch Otto Infeld, Ludwig Kremling, Hans Lessmann, Alois Ratzmann und Karl Weidler.
V: Eine Manufaktur?
FT: Auch. Mehr ein Zusammenschluss Gleichgesinnter, die sich gegenseitig auf ihrem Weg bestärken.
Dann kam die dunkelste Zeit. 1933. Wir durften keine Saiten mehr nach Deutschland liefern. Hatten wir doch mit unseren umsponnenen Stahlsaiten quasi das Rad neu erfunden. Die Darmsaite genügte nicht mehr den modernen Anforderungen an Virtuosität und Klangvolumen. Anders als unsere neuen Instrumente waren die Saiten ein grosser Erfolg bei den Streichern bis in ihre jüngste Zeit.
Sie ziehen doch selbst gerade Saiten von Thomastik auf.
V: Ich stutze. Schon längst nehme ich nicht mehr wahr was ich tue. Lausche nur gebannt meinem unverhofften Gast und stelle Frage um Frage so lange ich IHN wahrnehme.
Wirtschaftssanktionen auf Saiten??
FT: Ja! Ihr macht doch gerade, keine 100 Jahre danach, den gleichen Blödsinn! «Brüderlichkeit»! Davon entfernen Sie sich aber gerade gewaltig.
Nun. Wir lösten das Problem, indem unser Freund Karl Weidler zurückging nach Nürnberg. Wir bauten da eine Dependence auf für den Deutschen Markt. Es hat uns nicht lange genützt. 1944 wurden beide Werkstätten, in Wien und Nürnberg ausgebombt. Alles war zerstört: die Instrumente, die Unterlagen, die wertvollen Materialien, Hölzer, Lacke und Harze....
Alles futsch!
Mit dem letzten Restwillen fingen wir 1949 in der Mollardgasse 85A in Wien wieder an.
LUDWIG KREMLING begann mit der Herstellung von Kolophonium mit Metallzusätzen. Wir brauchten ein geeignetes Kolophonium für unsere Stahlsaiten und unsere Planetentheorie. Jedem Klang sein Holz, jedem Klang sein Kolophonium.
Es war der Anfang des Kolophoniums, das Sie heute in der dritten Herstellergeneration als «Neues Liebenzeller Metallkolophonium» und als «Larica» kaufen können. Eines der begehrtesten Kolophonien weltweit!
OTTO INFELD übernimmt 1950 die Produktion der Saiten als eigene Firma.
Bis heute ist THOMASTIK-INFELD einer der beiden grossen Player im Saitengeschäft weltweit.
Ich verabschiedete mich von meinen Freunden 1951 mit den Worten: «Lebet im Leibe wie ihr könnt. Doch lebet und arbeitet so, dass euch die Menschen glauben, wenn ihr von Geisteswundern redet.» Und starb am 19. Nov. 1951.
Die Entwicklung der Saiten ging rasant weiter. Ich glaubte der Stahlkern sei das Non plus Ultra.
V: Ja, heute sind Kunststoffkerne aller Art gefragt. Sie haben die Gleichmäßigkeit in der Struktur wie Stahl und doch mehr der Wärme und Ansprache wie Darm.
FT: seufzt...
V: Nein! Gehen Sie noch nicht.
Ich soll einen Blog schreiben für eine Bratschenkolumne. Sie, Thomastik und Bratsche. Erzählen Sie!
FT: ( die Augen leuchten )
Ich liebte die Bratsche, spielte sie selbst im «Thomastik-Quartett». Carl von Baltz von den Wiener Symphonikern war unser Primarius. Die Zuhörer waren begeistert, wo immer wir auftraten. Stellen Sie sich vor. In einer Zeit, wo Hindemith mit seinem Quartett unterwegs war! Strauss seine letzten Opern schrieb. Die letzten Zuckungen der Jugendstilzeit. Mit Rudolf Steiner konnte ich mich persönlich austauschen.
Er sagte: «Die alten Geigen haben eine Wärme, wie wenn man sich ins Bett legt, und Ihre Geigen haben eine Wärme, wie wenn die Sonne aufgeht.»
PENG! EIN KNALL!
Vor lauter Verzückung über die Begegnung hatte ich die A-Saite immer weitergedreht, die nun mit einem lauten Knall zerrissen ist. Merde! – Ich habe noch eine andere...
Die Erscheinung ist gegangen. Große Leere im Raum.
120 Jahre dauert es, bis man eine Eiche für den Möbelbau gebrauchen kann.
130 Jahre ist es gegangen, bis der Dreifüssige Geigensteg- von Hermann Ritter erfunden - zur Zeit eine Renaissance erlebt.
Da wird es wohl nicht mehr lange dauern, bis der Impuls im Geigenbau von Franz Thomastik wieder aufgegriffen wird.
Zwei Geigen sind mir bekannt. Die eine überlebte in der Reka-Sammlung des Museums Viadrina in Frankfurt/Oder. Die andere (Ex-Renate Schmidt) befindet sich in der Sammlung des Goetheanums in Dornach/CH.
Auch wenn Rudolf Steiner grosse Widerstände Franz Thomastik voraussagte, lohnt es sich denen zu widerstehen und sich auf den Weg zu machen in ein immer noch neues Klanguniversum.
ein vielseitiger Musiker (Bratschist), der seine Karriere auf verschiedene Standbeine stellt. Das wichtigste Standbein ist seine Stelle in der Badischen Philharmonie Pforzheim, dem Orchester, welches sämtliche Vorstellungen des Musiktheaters am Stadttheater Pforzheim begleitet.
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Herr über einen Violaschatz.
Die in seinem epochalen Bratschenführer «Musik für Bratsche» beschriebene Literatur hat Konrad Ewald alle selber gespielt, beschrieben und archiviert. Das Allermeiste davon ist, oder war, in seinem Besitz und ist säuberlich geordnet in seinem grossen Haus in Liestal an den Wänden aufgereiht.
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Alles Wichtige in einen unterhaltsamen Dialog verpackt. Zur Ergänzung: Mann der ersten Stunde war auch der Kaufmann aus Zürich namens Eichenberger. Die Geige im Goetheanum trägt die Jahrzahl 1922 und die Nr 44.
Seit einem Jahr spiele ich die Geige Nr 62 aus dem Jahre 1924. Im Repertoire habe ich nicht nur die 6 Solosonaten Bachs und die 12 Fantasien Telemanns, sondern auch 12 Ton Werke von Emil Himmelsbach