Forschungsthema Violamusik

 

Der Musikwissenschaftler Phillip Schmidt hat sich der Violamusik des 18. Jahrhunderts verschrieben.

 

Phillip Schmidt am Bratschistentag 2018
in Halle an der Saale

Niklaus Rüegg – Auffallend viele Inputs auf music4viola stammen von Phillip Schmidt, Musikwissenschaftler aus Leipzig. Schmidt wurde 1986 im ostbrandenburgischen Bad Saarow geboren und hat dort und in der nahegelegenen Kleinstadt Fürstenwalde die Schule besucht, wo er 2005 auch sein Abitur abschloss. Von 2006 bis 2012 studierte er Musikwissenschaft, ab 2009 durchlief er den Masterstudiengang «Erschließung älterer Musik» an der Technischen Universität Dresden. In seiner Masterarbeit befasste er sich mit den Streichquartetten des Weimarer Hofkapellmeisters Ernst Wilhelm Wolf (1735 bis 1792).
Schmidt wollte ursprünglich Sänger oder Chemiker werden, entschloss sich dann aber für eine Laufbahn in der Musikwissenschaft. Sein wissenschaftlicher Schwerpunkt liegt im 18. Jahrhundert. Besonderes Augenmerk legt er dabei auf die Viola, sein Lieblingsinstrument, das er auch selber spielt.

Sie wollten erst Sänger werden. Bereuen Sie es, dass es nicht geklappt hat?
Nein, überhaupt nicht. Es ist schon gut, wie es herausgekommen ist.

Welche Voraussetzungen braucht es für den Beruf des Musikwissenschaftlers?
Man sollte musikalisch vorgebildet sein, ein Instrument spielen oder beherrschen. Ansonsten braucht es die üblichen Voraussetzungen eines Geisteswissenschaftlers. Ich musste eine Eignungsprüfung absolvieren: Auf einem Instrument etwas vorspielen, vorsingen, Gehörbildung und Rhythmus wurden geprüft und eine stilkritische Analyse eines zur Auswahl stehenden Musikstücks wurde durchgeführt. Die praktischen musikalischen Fertigkeiten werden dann im Studium nicht weiter ausgebaut. Die theoretischen Fächer hingegen sehr: Texte, Quellen, Kompositionsstile, Musikgeschichte, Musiktheorie, Musikästhetik.

 

Gibt es denn noch viele unerforschte Bereiche in der Musikgeschichte? Ist nicht langsam alles erforscht?
Nein, es gibt viele Spezialgebiete, die noch immer durch die Musikwissenschaft des 19. Jahrhunderts geprägt und erst sehr oberflächlich erfasst sind. Diese Bereiche gilt es nach und nach aufzuarbeiten, um ein umfassenderes bzw. differenzierteres Bild zu erhalten. Früher war die Wissenschaft überwiegend sehr wertend und auf ein paar wenige Komponisten wie Bach, Händel und Mozart konzentriert. Heute weitet man den Blick auf den Umkreis dieser Personen aus und bemüht sich um eine neutrale Sichtweise, die auch viel stärker andere relevante Aspekte berücksichtigt.

Sie waren als Student bereits beim Ortus-Verlag tätig und arbeiten an der Hallischen Händel-Ausgabe mit. Wo arbeiten Sie heute?
Ich bin am Institut für Musik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg angestellt, wir arbeiten aber im Händel-Haus. Dort arbeite ich zu 60 Prozent an der Hallischen Händel-Ausgabe. Als Wissenschaftsinstitution arbeiten wir mit dem Bärenreiter Verlag Kassel zusammen, bei dem die Hallische Händel-Ausgabe erscheint.

Wie darf man sich diese Arbeit vorstellen?
Wir setzen uns mit Manuskriptentwürfen, bestehend aus Vorwort- und Notentexten sowie Kritischen Berichten auseinander, die uns Spezialisten für einzelne Händel-Werke als Vorlage für wissenschaftlich-kritische Editionen liefern. Diese Manuskripte prüfen wir inhaltlich in allen Details. Einen wesentlichen Teil der Arbeit bildet der Vergleich der abgelieferten Notentexte eines Händel-Werkes mit den historischen Quellen. Wir sind oft monatelang damit beschäftigt, Fehler zu finden, zu korrigieren und zu redigieren, immer in Zusammenarbeit mit diesen Spezialisten. Wenn diese Phase abgeschlossen ist, folgt die Korrekturphase, nachdem der Verlag das überarbeitete Manuskript neu gesetzt hat.

Diese Händelforschung ist deshalb so kompliziert und aufwändig, weil seine Werke sehr beliebt waren und mehrfach, in verschiedenen, von Händel selbst autorisierten Fassungen, gespielt wurden. Es gibt mitunter zwölf verschiedene Fassungen eines Werkes, die für uns heute oftmals nur noch durch die zahlreichen handschriftlichen Nachträge in Händels Aufführungspartituren nachvollziebar sind, welche bei der Erstellung einer neuen Ausgabe neben der Erstaufführungsfassung alle rekonstruiert, berücksichtigt und gewichtet werden müssen.

Müssen Sie sich dann irgendwann für eine Fassung entscheiden, oder fügen Sie endlose Fussnoten an?
Ja, Fussnoten sind unumgänglich. Wenn es aber zu viele zu werden drohen, verweist man mit einer einzigen Fussnote auf den Kritischen Bericht...

 

Universitätsbibliothek, Bibliotheca Albertina, Leipzig
Photo: Swen Reichhold / Universität Leipzig

Sie wohnen in Leipzig. Arbeiten Sie auch hier?
An einem Tag in der Woche arbeite ich an der Universitätsbibliothek in Leipzig an einer Datenbank für Musikquellen-Katalogisierung (RISM). Hier gilt es, unterschiedliches Material aus vergangenen Zeiten zuzuordnen, zu katalogisieren, Musikanfänge einzugeben und so weiter. Am fünften Tag kümmere ich mich um meine eigenen, freien Forschungsthemen. Diese Arbeit kann sich auch auf das Wochenende ausdehnen...

Sie haben sich auf das 18. Jahrhundert spezialisiert, in dem es ein «überschaubares» Viola-Repertoire gibt. Was fasziniert Sie an der Viola und was an der Viola im 18. Jahrhundert?
An der Viola fasziniert mich natürlich der Klang. Sie ist als typisches Mittelstimmeninstrument im Satz fest verankert und fällt sozusagen nur auf, wenn sie fehlt. Das Instrument war im 18. Jahrhundert verkannt und man hat damals gerade erst angefangen, die Bratsche als Soloinstrument in Betracht zu ziehen. In der Kammermusik ist sie hingegen stark vertreten. An den Hofkapellen der Zeit hatten die Bratschisten einen schlechten Ruf. Sie waren meist degradierte Geiger, die zu wenig gut waren. Die Wurzeln der Geringschätzung der Bratsche liegen meiner Meinung im 18. Jahrhundert. Dabei ist sie etymologisch gesehen der Kopf der Streichinstrumente: Die Violine ist die Verkleinerungsform von Viola. Violone wäre die grosse Bratsche und Violoncello die «kleine Grosse».

 

Sonate - G.Antoniotto

Giorgio Antoniotto ist eine Entdeckung von Ihnen. Er hat in den 1750er Jahren zwei Solosonaten für Bratsche geschrieben. Wodurch zeichnen sich diese Werke aus?
Ich bin in der internationalen Musikquellen-Datenbank RISM per Zufall auf diese Werke aufmerksam geworden. In der Library of Congress in Washington liegt das Autograph einer Es-Dur-Sonate, datiert auf November 1753. Es dürfte sich demnach um die früheste Sonate für Bratsche und Basso continuo handeln, die als Autograph überliefert ist. Auch eine weitere F-Dur-Sonate könnte in den 1750er Jahren komponiert worden sein. Es gab aber ungenaue Angaben in der Datenbank. Deshalb habe ich mir die Stücke digitalisieren lassen und später ediert. Die Es-Dur-Sonate wurde von der Bratschistin Pauline Sachse eingespielt: https://www.music4viola.info/werk-info/2/Antoniotto

Beim brandenburgischen Musikverlag ortus haben Sie in den Jahren 2010 bis 2012 in vier Bänden sämtliche Streichquartette von Ernst Wilhelm Wolf in kritischen Editionen herausgegeben. Das klingt nach viel Arbeit...
Ja, das war viel Arbeit. Den zwölf Streichquartetten von Wolf habe ich meine Masterarbeit gewidmet. Wir waren viele Jahre damit beschäftigt, denn die Quellenlage war teilweise sehr komplex. Wir haben unzählige Autographe, Abschriften und Erstdrucke minutiös untersucht und konnten dadurch den Weg von der Komposition bis zum Druck detailliert nachvollziehen.
Ich arbeite viel mit den Quellen aus der Berliner Sing-Akademie, die sich als Depositum in der Staatsbibliothek zu Berlin befinden. Dort habe ich Wolf entdeckt. Diese Quellen waren seit dem 2. Weltkrieg verschollen. Es gab nur noch einen alten handschriftlichen Katalog davon. 1999 wurde fast der ganze Bestand in Kiew wiedergefunden und 2002 nach Berlin rücküberführt.

Welche Bedeutung messen Sie dem Komponisten Wolf bei?
Wolf ist ein typischer Vertreter der Zeit zwischen Barock und Klassik, wie etwa die Bach-Söhne. Von der Qualität her ist er ein Komponist, der sein Handwerk gut versteht und weiss, wie man kontrapunktisch arbeitet und zugleich gute Musik macht. Er vereinigt Stilelemente, die aus der Barockmusik kommen mit solchen, die sehr modern sind. Seine Werke wurden bisher kaum gespielt. Aufnahmen sind rar. In Zusammenarbeit mit dem Pleyel-Quartett Köln entstand vor einigen Jahren eine Einspielung von fünf Quartetten:
https://www.jpc.de/jpcng/cpo/detail/-/art/ernst-wilhelm-wolf-streichquartett
Ich versuche, mit Künstlern ins Gespräch zu kommen, um gewisse Werke zu Gehör zu bringen. Die Edition ist ein erster Schritt dazu.

 

Konzert - Carl Benda

Eine weitere Komposition, die Sie herausgegeben haben, stammt von Carl Benda...
Carl Benda ist ein Sohn von Franz Benda, welcher Konzertmeister der Preussischen Hofkapelle war. Seine beiden Söhne Friedrich und Carl wurden auch Geiger der Hofkapelle und haben beide Bratschenkonzerte komponiert. Bei ortus habe ich die Erstpublikation von Carl Bendas Violakonzert in F betreut. Ausserdem gibt es von Carl Benda noch zwei Sonaten für Violine und Cembalo in F und in Es. Sie sind in autographen Reinschriften, beide datiert auf das Jahr 1785, erhalten.

Die Geschichte mit den Komponisten Markus Heinrich Grauel und Johann Gottlieb Graun, dem älteren Bruder von Carl Heinrich Graun, ist spannend. Anhand von welchen Indizien haben Sie herausgefunden, dass das Konzert für Viola in Es-Dur nicht von Grauel sondern wahrscheinlicher von Graun stammen könnte?
Da habe ich mich mit namhaften Forschern kurzgeschlossen, die mit den Grauns gut bewandert sind. Christoph Henzel hat das Werkverzeichnis der Gebrüder Graun gemacht, was gar nicht so einfach war, da man schon in der damaligen Zeit die Werke der beiden Brüder kaum unterscheiden konnte. Grauel war Cellist der Preussischen Hofkapelle. Über ihn ist nicht viel bekannt, doch habe ich festgestellt, dass dieses Werk stilistisch nicht zu ihm passt, sondern eher zum Instrumentalkomponisten J.G. Graun.

Und wie kommt’s, dass solche falschen Zuschreibungen vorkommen?
Das ist das absolut kein Einzelfall. Da gibt es ganz viele Beispiele von Zeitgenossen, die falsche Namen unter Abschriften gesetzt haben, weil sie vielleicht nicht mehr sicher waren, wer was komponiert hat.

 

Phillip Schmidt - Einführung zum
Kammerkonzert «Preussische
Hofkapellbratschisten»

Wie stellen Sie bei Ihrer Arbeit sicher, dass Sie keinen Fälschern aufsitzen?
Da sind wir gut geschult. Im Masterstudiengang «Erschließung älterer Musik» an der Technischen Universität Dresden haben wir genau das gelernt. Man lernt die Tintenmischungen aus den alten Zeiten kennen, die Papierarten, die typischen Schreibgewohnheiten usw. Grade bei Wasserzeichen wird es schwer zu fälschen. Da müsste man ja Papier aus der Zeit verwenden.

Das hat etwas von einer kriminalistischen Ermittlungsarbeit...
Ja, durchaus, und es braucht viel Geduld. Interessant wird es, wenn man von einem Werk kein Autograph hat aber unterschiedliche Zuschreibungen. Dann versucht man anhand von Quellen oder stilistischen Merkmalen Informationen zu sammeln, um den Komponisten zu ermitteln.

Sie sind Mitglied der Deutschen Viola-Gesellschaft. Wird man Sie am nächsten Bratschistentag antreffen?
Ja, ich möchte dort präsent werden. Ich will Vorträge zu Fachthemen halten und auch die Webseite music4viola.info bewerben. Ich möchte ein Gremium mit Leuten bilden, die Inputs schreiben und sich auf der Webseite wissenschaftlich austauschen.

Herr Schmidt, herzlichen Dank für dieses interessante Gespräch!



Fussnoten
Demnächst gibt Phillip Schmidt bei ortus eine kritische Ausgabe der Solosonate in c-Moll für Bratsche und Basso continuo von Franz Benda heraus: http://www.ortus-musikverlag.de/de/home/om240


Auch folgende CD-Einspielungen hat Herr Schmidt beratend unterstützt:
  https://www.jpc.de/jpcng/cpo/detail/-/art/friedrich-wilhelm-heinrich-benda

  https://www.highresaudio.com/pauline-sachse-andreas-hecker-viola-galante

  Zu den spannenden Inputs von Phillip Schmidt
  Zu den Noten von Franz Benda
•  Zu den Noten von Friedrich Wilhelm Heinrich Benda


Niklaus Rüegg
 
Dieser Blogartikel wurde verfasst von Niklaus Rüegg, diplomierter Opernsänger (Musikakademie Basel), Absolvent des Internationalen Opernstudios Zürich, zweimaliger Gewinner des Migros-Begabten-Stipendiums, zahlreiche Engagements in Oper, Operette, Musical und Konzert im In- und Ausland.
Seit zehn Jahren ist Rüegg auch als Musikjournalist tätig und betreut unter anderem die Verbandsseiten des VMS (Verband Musikschulen Schweiz) in der Schweizer Musikzeitung.
Als junger Mensch hatte Niklaus Rüegg Geige und Bratsche gespielt.

 

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Violakonzert F-dur für Bratsche
und Orchester - F.W.H.Benda




 







 
Sonata in F-dur für Viola und
Basso continuo [Erstdruck] -
Franz Benda















 
Sonate in c-moll - Franz Benda












 
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